Ein Weltmusik-Festival? Ach-du-liebe-Güte. Nee…Weltmusik? Sag mal, ist das nicht Pan-Flöten-Terror, Didgeridoogebrumme und Windspielgeklingel? Und entrückte Mönchsgesänge zur Klangschalen-Kakophonie für meditierende Weltverbesserer oder indianische Trommelmusik im Ausdruckstanz-Seminar?

Ja, sicher, die Weltmusikschublade quietscht beim Öffnen immer ein bisschen, denn  ziemlich schwer wiegen die Vorurteile. Wer aber vorbehaltlos neugierig darin herumwühlt, findet schnell die neuen, spannenden Ausdrucksweisen derselben.

Und wenn, wie hier, auf dem größten Umsonst-und-draußen-Weltmusikfestival in Deutschland, dem mittlerweile 35. Barden-Festival in Nürnberg nicht nur monothematisches geboten wird, sondern der Besucher mit einem wunderbaren Reigen an faszinierenden, fluoresizierenden Musikwerken konfrontiert wird, so erweitert es den Fachgebiets-Horizont doch ungemein und verschönert das Leben allgemein.

In diesem Jahr liegt der Schwerpunkt des  Festivals  auf „Railroad Songs“, passend zum 175. Jubiläum der ersten Fahrt des „Adlers“ zwischen Nürnberg und Fürth. 60 Bands aus aller Welt sind auf  sieben Bühnen eingeladen. Die geneigten HörerInnen erwartet wie immer ein amtliches Brett aus dickem Funk, geschmeidigem Soul, Blues, Jazz-Bar-Flair, rumpeligem Rocksteady-Reggae, Folk, Mestizo aus  Frankreich, Spanien, rasende Balkan Beats aus Osteuropa mit Akkordeon, Geige und brettharten Bläsersätzen, und nicht zuletzt einen grenzenlos vielfältigen Reggae-Polka-Fado-Kosmos aus Norwegen, Portugal und Germany.

Passend, dass zu dem Thema „Train Songs“ auch Richie Arndt eingeladen wurde, gab er doch kürzlich erst sein Album gleichen Namens in die Ladenregale. Und klar, dass er dann passender Weise gleich zweimal hier aufspielt – zum Einen zelebriert er am Freitag mit seiner Band und ständig wechselnden Bühnengästen blitzsauberen, aufs Wesentliche reduzierten Bluesrock und zum Anderen erzählt er am Samstag, zusammen mit der wunderbaren Kellie Rucker an der Harp, im schattigen Kreuzigungshof unangestrengt und lässig seine ganz speziellen „Train Stories“.

Vorher tritt aber u.a. erst noch Hammerling mit Michaela Dietl auf der romantischen Bühne der Katharinen-Ruine vor uns ins blendende Sonnenlicht. Diese Namen habe ich, wie so viele auf diesem Festival, noch nie zuvor gehört und schaue gespannt auf eine sinnliche Akkordeonistin mit einer Seeigelartigen Kopfbedeckung, deren Begleiter mit einer wahren Armada von Instrumenten arbeiten: Alphorn, Maultrommel, die bulgarische Hirtenflöte „Fujara“, Kornett, Taschentrompete, Melodica  und Muschel, sowie Schlagwerk.
Wären Portishead und Tarantino gemeinsam auf dem Balkan zusammen mit Carla Bruni unterwegs, würde der Sound in etwa so klingen, so skurril-verrückt, liebevoll-chaotisch, herzergreifend-traurig. So stelle ich es mir jedenfalls vor. Aber, wie gesagt, ich habe keine Ahnung.
Zwischen Breaks und Atmosphären hin- und herpendelnd, Klänge, die zerlegt und wieder zusammengefügt werden, zwischen betrunkenem Jazz und AvantgardePunk, aus Akkordeonchören und Volksmusik arbeiten sich kurze schöne Augenblicke an die Oberfläche.
Ja, man muss diese kauzigen drei Protagonisten mit den interessanten Gesichtern einfach ins Herz schließen: Jeder dieser überdrehten, subtil eindringlichen Songs explodiert regelrecht vor Überraschungen und Ideenreichtum.
Und man spürt: in dem Leben dieser Musiker hat das Desaster einen festen Platz, worauf diese aber beileibe nicht mit Weinerlichkeit, sondern mit einem schlichten Schulterzucken reagieren.

Später wandern wir wie in einem Schwebezustand,  mit gut gefüllten Tucher-Plastik-Bechern in der Hand, von Kuba nach Portugal, von der Fleischbrücke zur Insel Schütt, verharren einige Zeit im Kongo, bevor wir nach Brasilien weiterziehen, gleiten leichtfüßig vom Wüstenrock aus der Sahara über die Agnesbrücke bis zur alle musikalischen Grenzen niederreißenden Elektropolka (?) aus Norwegen.

Wir begegnen traumverlorenen Trompetern in Phantasie-Uniformen, einem tätowierten Bassisten am Zupfinstrument Marke Eigenbau, einer wunderbaren Sängerin im geblümten Sommerkleid und einem breakdancenden Macho-Gitarristen, sowie einem ganz besonders beachtenswerten und  imponierenden Selbsthilfeprogramm namens „Staff Benda Bilili“, eine einzigartige Formation aus dem Centre Ville von Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo.
Diese acht polio-versehrten Musiker leben dort unter freiem Himmel, sind also obdachlos und die Hälfte von ihnen bewegt sich, auch hier auf der Bühne, auf selbstgebauten Rollstühlen fort. Diese Band verdient aber beileibe kein Mitleid, sondern höchsten Respekt für eine absolut professionelle Vorstellung.
Auf zum Teil selbst gebauten Instrumenten, klapprigen Trommeln, archaischen Rhythmusmonstern oder einer einseitigen Laute versetzen sie das Publikum regelrecht in Trance. Der afrikanische Soul von „Staff Benda Bilili“ ist geradezu hypnotisierend, groovt „wie Sau“ und erinnert in seiner Dynamik an den Funk des Godfather of Soul, aber auch die Verwandtschaft zu Reggae und uraltem R&B ist nicht zu überhören.

Zwischen den Tracks und Bühnen verlieren wir uns allmählich im musikalischen Flechtwerk, in dem unzählige Straßenkünstler um die Wette trommeln, geigen und klampfen, wir reden über die Gemeinsamkeiten von weltoffener Kulinarik und Musik, während wir uns zwischen Hornbläsern, Akkordeonspielern oder Gitarristen hindurch schlängeln.
Wir sprechen über musikalische Festmahle und vielschichtige Weltmenüs, lesen uns ein paar Sätze aus dem Programmheft zu den vorgestellten Musikern und Bands vor und stellen fest: ein Besuch auf dem Bardenfestival lohnt immer – und nicht nur für die beiden Ohrmuscheln.

Und während die Sonne so ganz allmählich hinter den historischen Giebeln der Altstadt verschwindet, begeben wir uns mit mittlerweile schmerzenden Füßen zum Hauptmarkt, auf dessen großer Bühne die Legende Arlo Guthrie mit langen weißen Locken und Bart, Lederweste und Mundharmonika, zum Programm einlädt.
Herrlicher Folkrock, absolut unmodern, unhipp und total unaufgeregt – aber trotzdem einfach gut.
Und als er  „City of New Orleans“, den Song von Steve Goodman, den er zum Hit machte und den wohl jeder sogleich im Ohr hat, anstimmt, helfen ihm nicht nur meine Person, sondern tausende Zuhörer beim Refrain: „Good morning America, how are you?“ textsicher mit. Da ich Arlo Guthriebisher noch nie live erleben durfte ( nein, ich war weder 1967 auf dem Newport-Festival, noch 1969 in Woodstock dabei), war dies für mich die Premiere, obwohl ich las, dass er seit vier Dekaden ständig unterwegs und ungefähr zehn Monate im Jahr auf Tour ist.

Ach ja, und was ich zum Schluss noch sagen will und was für mich auch immer wieder bei diesem Festival so unwiderstehlich ist: das Ganze  gibt es tatsächlich gratis.
Man kann also das eingesparte Geld der Tickets durchaus gerne in  CDs der auftretenden Bands nach persönlicher Präferenz eintauschen. Zur Unterstützung und/oder Anerkennung sozusagen. Also dann…los.